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Viennale 2015

Liebe LeserInnen,
da ich bei den Texten im aktuellen Viennale-Programm mitgearbeitet habe, kann ich (schnell hingefetzt) vorab ein paar Empfehlungen abgeben:

CAROL
Keine Überraschung: Schon jetzt kann ich sagen, dass das vermutlich mein Film des Jahres sein wird. Da es sich um den Eröffnungsfilm handelt, wird es sicher nicht leicht sein, Karten zu ergattern – aber keine Sorge, CAROL startet am 18.12. regulär im Kino. Bis dahin kann man sich mit der Sichtung des verwandten Meisterwerks DEM HIMMEL SO FERN vorbereiten, sofern man den – Schande! – noch nicht gesehen hat.

CARMÌN TROPICAL
Diese bittersüße Krimigeschichte wird jedem/jeder gefallen, dem/der Melancholie nicht fremd ist. Bemerkenswert ist der Film aber vor allem durch seinen praktisch nicht vorhandenen Umgang mit dem Thema Transgender, trotz Transgender-Protagonistin.

UN ETAJ MAI JOS / ONE FLOOR BELOW
Reduziertes rumänisches Kino at it’s best, eine überraschend spannende Studie eines Anti-Helden.

CHEVALIER vs. LOBSTER
Zweimal griechisches Kino, das sein Markenzeichen ausspielt: eine Versuchsanordnung realistisch durchzuspielen. CHEVALIER wird wegen vermeintlichen Männlichkeitsklischees sicher polarisieren. Auf der sicheren Seite ist man mit einer Prognose á la Amazon: „Wenn dir DOGTOOTH gefallen hat, wird dir auch CHEVALIER gefallen.“  Dem Vernehmen unter KollegInnen nach ist LOBSTER jedoch die amüsantere Variante, leider hatte ich bisher keine Gelegenheit letzteren zu sehen.
(Korrektur 28.10.: LOBSTER ist natürlich kein griechischer Film, sondern das U.S. Debut ds griechischen DOGTOOTH-Regisseurs Yorgos Lanthimos)

DHEEPAN
Bisher konnte ich die einhellige Begeisterung für Jacques Audiards Werke (EIN PROPHET, DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN) nie so recht teilen. Diesmal muss ich mich anschließen, diese Integrations-/Banlieues-Geschichte hat mich restlos überzeugt (wenn man von der ärgerlich unnötigen, allerletzten Szene einmal absieht).

HAPPY HOUR
Als Freund von ausgefeilten klassischen Dramaturgien bin ich generell der fast schon altmodischen Meinung: Wer eine Geschichte nicht in rund 90 Minuten erzählen kann, sollte es lieber gleich bleibenlassen. Insofern ist HAPPY HOUR mit seinen 5 Stunden Laufzeit eine echte Zumutung. Bemerkenswert ist an diesem Film trotzdem, dass er fast nie langweilig wird. Gerade durch die Überdehnung ist eine faszinierende Charakterentwicklung möglich. Man muss die Geduldsprobe allerdings nicht komplett aussitzen: Ich empfehle dazwischen auf einen Kaffee zu gehen, spätestens wenn im letzten Drittel eine Lesung in Echtzeit abgefilmt wird.

LAMPEDUSA IM WINTER und EINER VON UNS
Die österreichischen Highlights des diesjährigen Festivalprogramms, ersterer ein Dokumentarfilm, zweiterer ein Spielfilm auf Basis einer realen Begebenheit. Beide sehr sehenswert.

SEIT DIE WELT WELT IST
Normalerweise habe ich wenig für Dokus übrig, die das Landleben romantisieren. Günther Schwaigers Film hat mich trotzdem überrascht und taugt sicher gut für eine sehr entspannende Abwechslung im düster dominierten Festivalprogramm.

Selbstverständlich besteht hier keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, da ich nur einen Bruchteil des Festivalprogramms gesehen habe.

Disney hat Fieber

DAS MÄRCHEN DER MÄRCHEN: Matteo Garrones abgefahrenes Fantasy-Potpurri  hält in bestem Sinne, was der Titel verspricht. Ein greller Fiebertraum, der lange nachhallt.

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Three in One: DAS MÄRCHEN DER MÄRCHEN erzählt parallel drei archetypische Geschichten um drei Königsfamilien.
Eine unfruchtbare Königin wünscht sich nichts sehnlicher als ein Kind. Auf den Rat eines Zauberers lässt sie ein Seeungeheuer schlachten und dessen Herz von einer Jungfrau als Mahl zubereiten. Schon am nächsten Tag gebären sowohl die Jungfrau als auch die Königin Kinder, die wie Albino-Zwillinge aussehen …
Ein König und Schürzenjäger lässt sich vom betörenden allabendlichen Gesang einer Unbekanten bezirzen, und bekniet diese vor verschlossener Tür, sie möge das Schlafzimmer mit ihm teilen. Er ahnt nicht, dass der Gesang von einem greisen Schwesternpaar kommt, das sich durchaus in die Arme des virilen Königs sehnt, vorher aber noch die Grenzen der eigenen greisen Körper zu überwinden hat …
Ein alleinerziehender König ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, oder besser gesagt mit der Ersatzliebe für ein eigenartiges Haustier, als sich um seine Tochter zu scheren. Als er die Wahl für einen Zukünftigen für seine Tochter treffen soll, verspielt er sich und trifft eine Entscheidung, die sich bitter rächen wird …

Viele haben sich schon mit der psychoanalytischen Lesart von Grimms Märchen beschäftigt, und Autor und Regisseur Matteo Garrone bestimmt auch. Vielleicht sogar, bevor er seinen preisgekrönten Spielfilm über die Mafia, GOMORRHA, gedreht hat. Die neapolitanischen Märchen aus dem Barock, die ihm für diesen Film als Vorlage dienten, könnten so ähnlich auch in den originalen Grimm-Sammlungen und bei ihren Vorfahren stehen, bevor sie Walt Disney behübscht und durchgeputzt hat. Da gibt es Narzismus, Todestrieb, Inzest, Symbiose, Ersatzliebe, Projektion, alle möglichen pathologischen Beziehungen – Freud hätte seine Freude gehabt. Diese Märchen sind pervers, ungerecht und dreckig.

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Pervers schön sind sie außerdem. Denn der Look aktuellerer Fantasy-/Märchen-Blockbuster wie ist durchaus irgendwie vorhanden, aber immer ein bisschen schräger. Vor blütenweissem Palastdekor beisst Salma Hayek als Königin gar nicht ladylike in das blutrote Herz des geschlachteten Seeungeheuers. Ein Bild, das aus einem Jodorowsky Film stammen könnte. Die schwülstigen Settings, in denen sich Vincent Cassel als chauvinistischer König seinen leiblichen Gelüsten hingibt, könnten aus einem späten Fellini Film kommen. Die Paläste und fantastischen Landschaften sind immer eine Spur daneben, roher und seltsamer als in GAME OF THRONES, vielleicht gerade weil offenbar viel an italienischen Originalschauplätzen gedreht wurde. Auch der Cast um Salma Hayek, Vincent Cassel, Toby Jones und John C. Reilly kommt eher aus dem Indie-Kino als aus dem Spektakel-Universum. Trotzdem übertreibt Garrone diese „Artsyness“ nie. Die drei Geschichten sind zwar gekonnt verwoben, ansonsten aber sehr geradlinig erzählt. Dazu hat der Film einen altmodischen Score, wie er sich gehört: ein teppichartiges Orchester, das Stimmung macht, ohne jemals aufdringlich zu akzentuieren, wie heute in handelsüblicher Ware so oft üblich. Auch angenehm: Stakkato-Schnittfolgen und rasante Actionsequenzen fehlen komplett. Garrone lässt sich Zeit, und das ist gar nicht langweilig. Sein Film ist in allen Aspekten die gelungene Arthouse-Version eines Fantasy-Blockbusters für Erwachsene.

Gerne verzeiht man da kleine Schwächen wie gelegentlich nachlässig gezeichnete Charaktere oder das nicht vorhandene Schauspiel eines Vincent Cassel. DAS MÄRCHEN DER MÄRCHEN ist Überwältigungskino wie wir es schon lange nicht gesehen haben. Dieses Märchen hätte Walt Disney wohl nur im Fieberwahn erträumt. Hoffentlich findet der Film seine Schnittmenge zwischen spektakel-tolerantem Arthouse-Publikum und aufgeschlossenem Blockbuster-Publikum. Es wäre für beide Seiten eine bereichernde Erfahrung.

Ab heute im Kino.

Ein Goldfisch im Glas

Jafar Panahis neuester Film TAXI TEHERAN (derzeit im Kino) ist ein Kammerspiel, das sich ausschließlich in einem Taxi in der iranischen Hauptstadt abspielt. Zum engen filmischen Raum in seinem TAXI TEHERAN und ein kurzer Vergleich mit dem berühmtesten anderen Taxifilm, Jim Jarmuschs NIGHT ON EARTH.

Regisseur Jafar Panahi verdingt sich neuerdings als Taxifahrer

Regisseur Jafar Panahi verdingt sich neuerdings als Taxifahrer

Das Regime verhängte 20 Jahre Berufsverbot über den international anerkannten iranischen Regisseur Jafar Panahi, wegen „Propaganda gegen das Regime“. Seither hat er es geschafft, trotzdem bereits drei Filme zu machen und außer Landes zu schaffen. TAXI TEHERAN (im Original schlicht TAXI) gewann in Berlin den goldenen Bären und die Trophäe wurde von seiner Nichte (die im Film zu sehen ist) abgeholt. Denn das Exil scheint für Panahi, im Gegensatz zu anderen iranischen Filmemachern wie Abbas Kiarostami, keine Option zu sein. Mit der öffentlichen Anerkennung macht Panhai – bis jetzt – das Unmögliche möglich. Obwohl er sich medienwirksam den staatlichen Einschränkungen widersetzt, kann man ihm durch die internationale Aufmerksamkeit nicht ernsthaft etwas anhaben. Doch die Schikanen bleiben.

Der Hausarrest, in dem sein letzter Film entstand, dürfte mittlerweile gelockert sein. Denn in TAXI TEHERAN spielt er sich selbst als (miserabler) Taxifahrer. An der Konsole hat er eine kleine Kamera installiert und filmt seine Fahrgäste. Eine Frau und Mann streiten, ob die Todesstrafe für Straßendiebe gerechtfertigt sei. Ein anderer Mann hatte einen Unfall und muss blutüberströmt ins Krankenhaus. Im Schoss seiner kreischenden Frau verlautbart er sein Testament, wobei offensichtlich auch eine Geliebte im Spiel ist. Eine Menschenrechtsanwältin, eine Freundin Panahis, berichtet von jüngsten Erfolgen in der Justiz. Ein Händler von DVD-Raubkopien versucht Panahi die neuesten Filme anzudrehen, die im Iran verboten sind: „Sie sind doch Jafar Panahi, der berühmte Regisseur? Ich habe Sie sofort erkannt!“ Und schließlich holt Panahi seine Nichte von der Schule ab, die als Hausübung ausgerechnet einen Film machen soll, natürlich unter „islamischen“ Gestaltungskriterien: Alle Guten müssen muslimische Namen tragen, die Bösen hingegen Krawatte, und bloß keine Schwarzmalerei!  Das Kammerspiel in Jafar Panahis kleinem Taxi ist ein Spiegelbild des der widersprüchlichen iranischen Gesellschaft.

Das ist eine im filmischen Kammerspiel gerne durchexerzierte Tradition: Die Miniatur steht für ein großes Ganzes – alles ist da, nur eben im Kleinen, das Biotop ist dasselbe. Auch Jim Jarmuschs NIGHT ON EARTH (1991) spielt ausschließlich in Taxis, in fünf Episoden in verschiedenen Städten eingeteilt, Los Angeles, New York, Paris, Rom und Helsinki. Auch wenn der Film schon im Titel und mit der ersten Einstellung, der Weltkugel aus dem Weltall, die ganze Welt für sich reklamiert, geht es in NIGHT ON EARTH also eigentlich nur um die amerikanisch-europäische Welt. Wie in Panahis Taxi, spiegelt dennoch jede dieser Episoden die Kultur der jeweiligen Stadt wieder und kann so nur dort stattfinden: In Los Angeles ist es das Filmgeschäft, in New York die Aggressivität, in Rom der Katholizismus und in Helsinki die morbide Trinklust. Der Taxifahrer als Wanderer zwischen den Orten ist im jeweiligen Biotop ein Katalysator für Befindlichkeiten, wie auch bei Panahi.

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Geena Rowlands und Winona Ryder in der Los Angeles Episode von Jim Jarmuschs NICHT ON EARTH

Doch Jarmuschs Episoden sind anektodischer und verspielter, sie stellen niemals den Anspruch im Taxi eine Kultur in ihrer Gesamtheit abzubilden. Die meisten Einstellungen in NIGHT ON EARTH wurden offensichtlich von einem Autoschlepper aus gedreht, also von einem anderen Wagen aus, der das zu filmende Auto mit den Protagonisten hinter sich her zieht, wodurch die Schauspieler auch nicht wirklich fahren müssen. Die Kamera filmt durch die Windschutzscheibe, also von außen. Aber es gibt auch Szenen, in denen wir komplett das Taxi verlassen und die Kamera den Schauspielern nach außen folgt. Panahis Kamera ist nicht so frei. Niemals bewegt sie sich aus dem Auto heraus, sie folgt den handelnden Personen nicht, selbst wenn sie das Auto verlassen. Sie filmt aus dem Fenster, aus einer geöffneten Tür, die einzige Blickachse ist von der Windschutzscheibe nach hinten. Wenige Szenen werden überhaupt mittels Schnitt aufgelöst, die Einstellungen sind dadurch eng kadriert und vermitteln schon alleine deshalb ein Gefühl der Beklemmung. Panahis enges Taxi wird dadurch tatsächlich zu einer Art Brennglas für das Außen, das Panahi damit durchmisst: Selbst die banalste Konversation seiner Fahrgäste kommentiert stets die Widersprüche des Lebens in einem autoritären Staat.

Ganz nebenbei verwendet Panahi ein sehr starkes Symbol in seinem Film: Zwei ältere Damen steigen mitsamt einem Goldfisch im Glas ein. Das Glas zerbricht, der Goldfisch wird mithilfe eines Plastiksacks und einer Wasserflasche gerade noch gerettet. Die Damen haben vor ihn freizulassen, ob das auch wirklich geschieht, erfahren wir nie. Die iranische Gesellschaft ist dieser Goldfisch: International isoliert, kann man nur durch das einen engen Raum umfassende dicke Glas hinausblicken, aber nicht teilhaben. Und gleichzeitig ist dieser Goldfisch Panahi selbst, in einem Goldfischglas innerhalb des Goldfischglases. Mit seiner Kamera kann er zwar aus dem Taxi herausschauen, ist aber durch das Berufsverbot unfähig teilzuhaben. Ob Hausarrest oder nicht, er ist in diesem Taxi eingesperrt.

Dass Panahi trotz der Gravitas seiner Themen humorvoll und leichtfüßig im Erzählstil bleibt, ist erstaunlich. Das liegt unter anderem daran, dass er seine eigene Situation durchaus selbstironisch thematisiert, unter anderem indem er den Taxifahrer selbst spielt. Natürlich wird sehr schnell im Film deutlich, dass er ein miserabler Taxifahrer ist, der das Straßennetz nicht kennt. Die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation verwischt Panahi konsequent: Gleich der zweite Fahrgast, der Raubkopien-Dealer, der den umstrittenen Regisseur erkennt, behauptet „Geben Sie es zu, sie machen doch schon wieder einen Film, oder? Die zwei, die gerade ausgestiegen sind, das waren doch Schauspieler, stimmts?“ Auch die Menschenrechtsanwältin entdeckt gegen Ende ihrer Fahrt die kleine Kamera an der Konsole und meint augenzwinkernd: „Ich weiß genau, was du da schon wieder machst, Panahi. Aber du wirst mein Gebrabbel ohnehin herausschneiden.“ Und der Mann, der sich im Streit mit einer Frau vehement für die Todesstrafe für Diebe eingesetzt hat, outet sich bei Aussteigen noch rasch als „von Beruf Straßenräuber“. Sein und Schein liegen eng beieinander in Panahis Taxi. Offensichtlich inszenierte Episoden wechseln sich mit realen Personen und solchen, bei denen es nicht eindeutig ist, ab. In Richtung iranischer Zensur scheint er zu sagen: „Das ist nur ein Film!“ (auch wenn er seinen letztes Werk provokant mit DAS IST KEIN FILM betitelt hat), in Richtung seines Publikums schreit Panahi förmlich: „Das ist die Wahrheit!“.

Panahis Freundin entdeckt die versteckte Kamera

Panahis Freundin entdeckt die versteckte Kamera

Denn schließlich geht es in TAXI TEHERAN auch um das Filmemachen selbst, und zwar das Filmemachen im Goldfischglas. Ein Student fragt Panahi um Rat, wie er eine Idee für einen Film finden kann. „Indem du nicht danach suchst,  ganz andere Sachen machst und die Augen offen hältst“ lautet die Antwort des taxifahrenden „Ex-Regisseurs“ Panahi. Der Mann lässt sich  nicht niederzwingen. Deprimierender wird das ganze, als Panahis Nichte verzweifelt versucht, nach den ihr auferlegten Regeln ihren „Hausübungs“film zu machen. Sie filmt durch das Fenster des Taxis einen Straßenjungen, der einen fallen gelassenen Geldschein mitgehen lässt. Verzweifelt versucht sie ihn anschließend durch das Fenster zu überreden, den Geldschein zurückzugeben, um das zu filmen, weil sie keine unislamischen Handlungen zeigen darf: „Ich muss doch die Wahrheit zeigen!“ Ja, was ist denn nun die Wahrheit?

Auch Jim Jarmusch hat in der Los Angeles-Episode von NIGHT ON EARTH eine kleine Metaebene eingezogen, die das Filmgeschäft thematisiert. Castingagentin Gena Rowlands bietet unvermutet der ruppigen Taxifahrerin Winona Ryder eine Rolle an. Zu Rowlands Verblüffung winkt diese nonchalant ab: „Lady, I like the movies and all. But that’s not a real life for me, you know?“ Mit diesem Augenzwinkern in der ersten Episode legt Jarmusch eine ironische Geste über seinen ganzen Film, alles ist nur ein Spiel, nicht echt. Ein Luxus, den sich Panahi bei aller Ironie nicht leisten kann. Seine Botschaft ist unmissverständlich: Das Leben ist die Kunst und die Kunst ist das Leben. Ein unpolitisches Leben ist unmöglich und daher ist auch eine unpolitische Kunst unmöglich. Das Berufsverbot hat ganz reale Auswirkungen auf sein Leben UND auf die iranische Gesellschaft. Es bleibt zu hoffen, dass er sich unter dem Brennglas seines Goldfischglases weiterhin nicht verbrennt. Mit geringsten Mitteln ist Panahi trotz Berufsverbots ein hochkomplexes, subversives Meisterwerk gelungen. Man darf zuversichtlich sein, dass er es niemals, jemals aufgeben wird, Filme zu machen. Aufrichtigen Dank dafür.

Hedi Schneider steckt fest

Erstaunliche Komödie über eine Titelheldin mit Angststörungen.

Hedi

Meine komplette Rezension zum neuen Film von Sonja Heiss können Sie in Print im aktuellen Ray Filmmagazin (7/8 2015) nachlesen, oder online hier. Eine uneingeschränkte Empfehlung!

Investment in Zeiten der Krise

Am 6.2. kommt mit DIE SÜSSE GIER ein italienischer Episodenfilm vor dem  Hintergrund der Finanzkrise bei uns ins Kino. Der Film war in seiner Heimat, wie schon die Buchvorlage, ein Kassenschlager. Nicht nur den analytisch geneigten Gemütern der Filmkritik machen kunstvoll konstruierte Episodenfilme Spaß. DIE SÜSSE GIER ist eine sehenswerte handwerkliche Fingerübung.

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Der Film beginnt mit einem Unfall, der das Schicksal zweier Familien miteinander verbinden wird. Die Ossalas, eine um ihre Existenz kämpfende Mittelklasse-Familie, und die Bernaschis, eine reiche Kapitalisten-Familie, haben zunächst nur gemeinsam, dass ihre Kinder in derselben Schule sind und sich romantisch annähern.
Dino Ossala wird versuchen die neue Bekanntschaft für seinen Vorteil zu nutzen und sich auf höchst riskante Weise in den Hedge Fond der reichen Bernaschis einzukaufen. Carla Bernaschi, ehemalige Schauspielerin, ist hingegen selbst kaum mehr als eine schöne Trophäe für ihren Mann Giovanni und wird versuchen sich ihre Würde und Integrität als Mäzenin eines kleinen Theaters zurückzukaufen. Und Serena, Dino Ossalas Tochter, wird versuchen, gegen alle Vernunft ihre Gefühle in den (vermeintlich?) falschen Mann zu investieren.

DIE SÜSSE GIER heißt im Original Il CAPITALO UMANO. Der titelgebende Begriff „Human Capital“ beschreibt in der Sprache der Versicherungen den monetären Wert von menschlichen Beziehungen für Kompensationszahlungen. Deshalb darf man den  Film durchaus als Kommentar zur Finanzkrise begreifen, oder besser noch als ein Abbild der italienischen Gesellschaft vor dem Hintergrund einer Wirtschaft in der Abwärtsspirale. Einen Wirtschaftskurs muss man dafür nicht absolvieren, im Zentrum stehen die menschlichen Verwerfungen in diesem Zusammenhang. Die Gier spielt  eine zentrale Rolle, nach Geld aber auch nach Statussymbolen. Investment ist aber das zentrale Thema des Films, das sich langsam vom finanziellen zum persönlichen Investment verschiebt.

Weil DIE SÜSSE GIER ein Episodenfilm ist, wird er, streng in 3 Akte und 4 Kapitel eingeteilt, aus der Perspektive von 3 verschiedenen Personen erzählt, Dino, Carla und Serena. Dadurch wird auch das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven durchdekliniert, und wie dieses Geflecht zusammengehalten wird, ist natürlich eine faszinierende Spielerei. In der kunstvollen Konstruktion des Plots kann sich Regisseur Paolo Virzi ganz gemütlich auf die Bestseller-Vorlage von Stephen Amidon verlassen, selbst ein Filmkritiker. Auch das weniger dramatisch geneigte Publikum wird mithilfe einer Thriller-Struktur gekonnt bei der Stange gehalten, indem ein Unfall vorangestellt wird und dessen Hergang als Rätsel langsam aufgelöst wird. Der  Perspektivenwechsel zwischen den Charakteren ermöglicht einen ständigen Zuwachs an Information, der das mysteriöse Ereignis stets in ein anderes Licht rückt. So wird eine Szene in jeder der drei Episoden aus unterschiedlichen Perspektiven wiederholt: Die Mittelklasse-Familie Ossala wird beim Abschlussball der Schule von Serena und Luca an den Tisch der reichen Familie Bernaschi eingeladen. Doch warum weint Roberta vorher in ihrem Auto? Und warum kommt Serena viel zu spät? Der Zuschauer bleibt der Wahrheit auf der Spur.

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Der große Verdienst von Virzis Inszenierung liegt darin, das abstrakte Thema mithilfe eines durchgängig glänzenden Casts mit Leben zu füllen. Allen voran Valeria Bruni Tedeschi: Die hat in ihrer Paraderolle als armes reiches Mädchen schon öfter genervt, hält hier aber als der mittlere der Charaktere den Film souverän und leichtfüßig zusammen. Selbst die Nebenrollen wie Fabrizio Gifuni als Finanzhai oder Fabrizio Bentivoglio als patscherter Möchtegern-Emporkömmling ringen ihren unsympatischen Charakteren unerwartete Nuancen ab, und von den Jungschauspielern Matile Gioli (Serena) und Giovanni Anzaldo (Luca) wird man hoffentlich im italienischen Film noch hören.

Regisseur Paolo Virzi hat in Italien bereits einige veritable Publikumshits geliefert und den Routinier sieht man seinem Film auch an, vielleicht sogar ein wenig zu sehr. Die Kamera von Jéróme Alméras leuchtet jeden Winkel der Bernaschi Villa dekorativ aus. Und wenn es Weihnachtszeit ist, weiß man das in DIE SÜSSE GIER gleich durch einen höchst effizienten Establishing-Shot, in dem uns eine Kamera-Kranfahrt durch weihnachtlich beleuchtete Straßen und Schneeflocken führt, Bing Crosby Weihnachtslieder aus dem Off jault und am Gehsteig dekorativ ein Weihnachtsmann platziert ist. KEVIN ALLEIN ZU HAUS lässt grüßen. Dieser flüssige, effiziente Inszenierungsziel mag manchem angesichts des Themas zu dekorativ erscheinen. Aber die glatte Oberfläche setzt durchaus einen eleganten Kontrapunkt zu den menschlichen Verwerfungen, die unter dieser Oberfläche brodeln.

Wer sich große Einsichten zur Finanzkrise von DIE SÜSSE GIER erwartet, wird enttäuscht werden. Dafür bekommt man intelligente Unterhaltung auf höchstem handwerklichen Niveau und der Lustfaktor des episodischen Planspiels wird voll eingelöst. Sehenswert!

Trailer hier ansehen. (Achtung, er enthält ein paar kleine Spoiler – am besten einige Zeit vor dem Kinobesuch anschauen und gleich wieder vergessen)

Blender oder Wunderkind?

Xavier Dolans neuester Film MOMMY ist vielleicht sein bisher bester und wurde in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet. Den nur 25-jährigen Frankokanadier umweht der Ruf eines Wunderkindes. Er schließt nun mit MOMMY thematisch an seinen Debütfilm vor 5 Jahren an. Zeit für ein Resümee: Was ist dran, an dem Wunderkind? 

MOMMY

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Auch wenn es im österreichischen Feuilleton noch nicht so recht angekommen ist, hat sich Xavier Dolan in nur fünf Jahren mit fünf Filmen als fixe Größe im internationalen Autorenkino etabliert. Er ist zwar seit seinem Debütfilm ein Liebkind in Cannes, aber so richtig trauen wollte man dem Hype dann auch dieses Jahr noch nicht: Den Jury-Preis musste er sich mit Kino-Rentner Godard teilen. Damit ging der Preis gleichzeitig an den ältesten und den jüngsten Preisträger in der Geschichte des Festivals. Eine schöne Geste, und nebenher natürlich ein schöner PR-Coup.
Dolan hatte zwar schon als Kinder-Darsteller in TV und Kino geübt. Aber  sein Debütfilm I KILLED MY MOTHER (2009) überzeugte mit einer formalen und inhaltlichen Reife, die man keinem 19-Jährigen zutrauen würde. Das Drehbuch schrieb er im zarten Alter von 16. Sein neuester Film MOMMY (2014) ist eine Variation seines Debütfilms.

Diane („Die“) löst ihren 15-jährigen Sohn Steve aus einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche aus. Die Erzieherin hält das für keine gute Idee: „Liebe allein kann niemanden retten“ sagt sie. Die alleinerziehende Die tritt an, um das Gegenteil zu beweisen. Ohne Job, ohne Bildung und ohne Kindsvater kämpft sie für ihren Sohn, wenn auch mit unorthodoxen Mitteln. Steve ist hyperaktiv, ungefiltert emotional, manchmal gewalttätig und an der Grenze zur Kriminalität. Und kämpft seinerseits manisch für das Recht bei seiner Mutter sein zu dürfen. Als sich das exzentrische Gespann mit der bürgerlichen Nachbarin Kyla anfreundet, scheint das unmögliche Unterfangen plötzlich nicht mehr so unmöglich. Kyla ist ehemalige Lehrerin und scheint mit ihrer besonnenen, pädagogisch geschulten Art einen besonderen Draht zum schwierigen Steve zu entwickeln.

Das Szenario von MOMMY ähnelt bis hin zur Besetzung Dolans Debütfilm I KILLED MY MOTHER; es glänzen mittlerweile zu Dolans Stamm-Cast avancierte Schauspielerinnen. Die begnadete Anne Dorval verkörpert wieder die überforderte Mutter, die nicht minder strahlende Susanne Clément ihr vermeintlich gegensätzliches Spiegelbild, das eine Alternative aufzuzeigen scheint. Auch in I KILLED MY MOTHER war Clément eine sensible Lehrerin, bei der der schwierige Hubert Zuflucht vor seiner Mutter suchte. Nur den schwierigen Teenager spielt Xavier Dolan nicht mehr selbst, sondern der erstaunliche Newcomer Antoine-Olivier Pilon, der sich als Steve mit einer verblüffenden Körperlichkeit veräußert. Damit wäre einmal klargestellt: MOMMY ist großes Schauspielerkino, das alle Darsteller-Oscars dieser Welt verdient hätte (und als franko-kanadischer Film natürlich nicht bekommen wird).

MOMMY

MOMMY

In I KILLED MY MOTHER war die Geschichte des pubertierenden Hubert, der plötzlich alles an seiner ehemals heißgeliebten Mutter kategorisch ablehnt, nach Dolans eigener Auskunft noch semi-autobiografisch. Daraus machte er eine ungewöhnliche Coming-of-Age Geschichte, inklusive beiläufigem Coming-Out und erster Liebe. Weil I KILLED MY MOTHER natürlich kein Horror-Film ist, ist der Titel  sinnbildlich für adoleszente Emanzipation und das Erwachsen-Werden zu verstehen. Die autobiografische Nähe eines jungen Regisseurs zu seinem Thema kann leicht ins Auge gehen, führte aber in I KILLED MY MOTHER zu unvergleichlicher Authentizität. Das Thema der problematischen Mutterliebe geht Dolan nun in MOMMY dramatisch zugespitzter an und bringt es von einer eigenen Biografie weg; Steve behauptet einmal an ADHS („Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) zu leiden, genaue Rückschlüsse lässt das Drehbuch nicht zu. Der Konflikt mit der Mutter ist hier nicht nur pubertär, sondern viel grundsätzlicher und daher dringlicher. Es scheint fraglich, ob Steve überhaupt für sich selbst sorgen können wird. Das homosexuelle Coming-Out – ein Katalysator für den Entfremdungsprozess in I KILLED MY MOTHER ­­- fehlt in MOMMY komplett. Das wird in der Rezeption sicher hilfreich sein, wurde ersterer­ doch noch von vielen voreilig in das freudsche Eck „Homosexuelle und ihre Mütter“ gestellt. Nun mag es zum Teil stimmen, dass sich Dolan an seiner eigenen Mutterbeziehung abarbeitet. Doch offenbart MOMMY vor allem eine Figurenkostellation, die sich mittlerweile durch Dolans Werk durchzieht. In seinem LAURENCE ANYWAYS (2012) kämpfte ein heterosexuelles Paar mit aller Kraft für seine Liebe, obwohl er sich zu einer Geschlechtsumwandlung entschließt. In seinem SAG NICHT, WER DU BIST (2013) versuchte ein junger Mann die Liebe zu seinem verstorbenen Partner zu konservieren, indem er sie auf den Bruder des Toten projiziert. Und in HERZENBRECHER (2010) versucht ein Freundespaar die Freundschaft aufrecht zu erhalten, obwohl sich beide in denselben Mann verlieben. Gemeinsam haben all diese Figuren, dass sie gegen alle Widrigkeiten verzweifelt, inbrünstig und mit großer Selbstverständlichkeit für eine Liebe kämpfen, die bereits von Anfang an aussichtslos erscheint. Sie können gar nicht anders. Das macht die Schönheit von Dolans Charakteren aus, und die strahlen in MOMMY ganz besonders.

Denn Dolan konzentriert sich ganz auf die Dynamik zwischen seinen fein gezeichneten Charakteren, der auch die simple Plot-Entwicklung untergeordnet ist. MOMMY gleicht darin vor allem Dolans Geschlechtsumwandlungs-Drama LAURENCE ANYWAYS. Eingebettet sind seine Figuren in eine detailreiche Milieuzeichnung, die in I KILLED MY MOTHER noch kleinbürgerlich war und in MOMMY proletarisch ist. Das bildungsferne Umfeld zeigt Dolan liebevoll und nicht wertend, dennoch unterfüttert das Milieu subtil die Ausweglosigkeit seiner Figuren. In dieser rohen Authentizität hat MOMMY schon fast etwas von den neueren Filmen der Dardenne-Brüder. Aber es wäre nicht Xavier Dolan, wenn er nicht auch formal alle Register ziehen würde: Bereits in LAURENCE ANYWAYS hat er mit dem heute nicht mehr verwendeten Fernsehformat 4:3 experimentiert. MOMMY ist nun gleich im quadratischen 1:1-Format gedreht, in dem die Enge der Filmkader die Seelenlage der Figuren noch drängender macht. Doch damit nicht genug, Dolan reißt an wenigen, bezeichnenden Stellen unverschämter Weise mitten im Film das Format auf und wechselt auf das heute übliche breitwandige 16:9. Die formale Raffinesse, mit der das vonstatten geht, muss man unbedingt im Kino gesehen haben!

I KILLED MY MOTHER

I KILLED MY MOTHER

Bei Dolan schon traditionell, wartet natürlich auch MOMMY mit einem eklektischen Pop-Soundtrack auf und spielt die Songs fast immer komplett durch. Das nervt manchen Kritiker bis aufs Blut, der Vorwurf lautet Dolan würde seine Filme zukleistern und mangelnde emotionale Tiefe von der Musik borgen. Aber das Stilmittel ist in Post-Musikvideozeiten nun wirklich nicht mehr neu und ärgert bezeichnenderweise dieselben Kritiker bei Quentin Tarantino viel weniger. Vielleicht liegt es daran, dass es Dolan nicht nur David Bowie verwendet (wie Tarantino in dieser großartigen Szene in INGLORIOUS BASTERDS), sondern gerne auch mal Celine Dion. Eine gewisse Offenheit für die Coolness des Camp muss man bei Dolan schon mitbringen. Auch für MOMMY gräbt er so einiges aus, was schon in den 90er Jahren peinlich war, um seine surrealen Einschübe musikalisch zu verstärken – Eiffel 66? Dido? Celine Dion? What the fuck! Dafür fehlt bei Dolan das immer noch so oft übliche „Mickey Mousing“ komplett, der ständig dezent im Hintergrund klimpernde, eigens komponierte Soundtrack, der Emotionen subtil verstärken soll. Die Kritiker dürfen sich beruhigen: In Mommy bleibt der Einsatz der Musik vergleichsweise subtil, da sie oft einen szenischen Ursprung aus dem Radio oder aus der Karaoke-Box hat, statt einfach nur über die Bilder gekleistert zu sein. Es ist auch nicht schwer vorstellbar, dass ein Junge in den 90ern wie Steve eben Eiffel66 hört. Auch die Kostüme (wieder: 90er Jahre!) hat Dolan, wie in jedem seiner Filme seit HEARTBREAKERS selbst gemacht. Es ist alles da, was einen Dolan-Film stilistisch ausmacht, auch wenn die formale Spielerei, bis auf den Formatwechsel, im Vergleich zu seinem bisherigen Werk recht zurückhaltend bleibt.

Schon seinen Debütfilm  KILLED MY MOTHER hat Dolan trotz des adoleszenten Themas  mit eigenwilliger Stilsicherheit präsentiert. Der Film montierte mit fast kindlicher Freude alle Kunstformen aus dem bildungsbürgerlichen Hausrat zusammen: Musik von Bach bis Schlager, Gedichte als Textinserts, das an die Fotografie angelehnte Tableau Vivant (gerne im Stil von Pierre et Gilles), „Selfies“ mit der Videokamera, sogar die Live-Entstehung eines Schüttbildes fand darin einen Platz. Mit diesen geborgten Versatzstücken etablierte Dolan einen fast postmodernen Gestus, plus Retro und minus Ironie. Vor allem mit seinem zweiten Film HERZENSBRECHER trieb er dieses Spiel bis zum Exzess. HERZENSBRECHER funkelt nur so vor endlosen Zeitlupen, exzentrischen Ausleuchtungen, zuckerlbunten Kostümen und haarsträubenden Frisuren verschiedenster Epochen und Stile. Garniert mit einem Augenzwinkern an seine großen Vorbilder, ein bisschen Wong Kar-Wai hier, eine Prise Godard da, in guter, alter postmoderner Manier. Damit wurde HERZENSBRECHER zwar zu einem Lieblingsfilm der Hipsterbewegung und hat Dolan wohl auch einen Platz im Popuniversum gesichert. Der Triumph der Form über die (ebenfalls geborgten) inhaltlichen Themen des französischen Autorenkinos, Amour Fou und Ménage à trois, ist aber sicher nicht jedermanns Sache.

HERZENSBRECHER

HERZENSBRECHER

Doch Dolans Vorliebe für die Form hat auch einige seiner besten Film-Momente hervorgebracht. Denn seine Arbeiten sind (vielleicht mit Ausnahme von HERZENSBRECHER) trotzdem keine hochstilisierten Übungen in Filmästhetik. Kamerafahrten und sind bei ihm selten, Choreografien á la Max Ophüls sucht man vergeblich. Dialoge löst er dafür gerne in langen, statischen Einstellungen ohne Schnitt auf oder lässt die Figuren in den Schuss-, Gegenschuss-Einstellungen fast aus dem Bild fallen. Das bevorzugte Mittel für diese Szenen ist die Handkamera. Doch diese rohen Dialogszenen wechseln sich mit surrealen Einschüben ab. Das sind traumhafte Sequenzen, absurde Tableaux Vivants, oder stilisierte Bewegungen in Zeitlupe oder grellem Licht, die das Geschehen emotional verdichten. Unvergesslich ist etwa die Szene in LAURENCE ANYWAYS, in der das wiedervereinte Liebespaar in der schwarz-weißen Landschaft der „Isle of Black“ spazieren geht, während es in Zeitlupe knallbunte Klamotten regnet. Oder die vielen Szenen in verschiednen Filmen in denen sich Zeitlupe und Zeitraffer hart abwechseln, natürlich mit Pop-Soundtrack unterlegt. Auch ungewöhnliche Lichtverhältnisse mag Dolan sehr gerne. Wenn er in den Zauberkasten greift, kann das schon ziemlich Spaß machen.

LAURENCE ANYWAYS

LAURENCE ANYWAYS

In jeder Faser von Dolans Filmen ist Dolan selbst zu spüren. Das hat etwas narzisstisches, aber seine Filme stellen daher auch die Elemente eines Films aus, statt sie zu verschleiern. Sie sind, wie Fassbinders Filme, auch immer ein wenig Filme über das Filmemachen. Nicht nur wegen seines Arbeitstempos (zuletzt zwei Filme pro Jahr) wird Dolan gerne mit Rainer Werner Fassbinder verglichen. Es bleibt zu hoffen, dass er weniger Drogen nimmt und sich nicht wie dieser früh zu Tode schuftet. Auch wenn Fassbinder einen viel nüchterneren Stil hatte, setzte auch er gerne verschiedene Medien und Kunstformen seiner Zeit ein, um formal seinen eigenen Film zu kommentieren. Dolans vorletzter Film, die Theater-Verfilmung SAG NICHT, WER DU BIST, ist ein Thriller-Planspiel um eine sadomasochistische Beziehung, das gerade seine durch seine reißbrett-artige Struktur eine große Faszination entwickelt. Der Film funktioniert daher vor allem auf einer intellektuellen Ebene; Dolan dabei zuzusehen, wie er seinen Stil einem Genrekorsett überstülpt.

Vielleicht beruht der Kurzschluss Fassbinder-Dolan aber auch nur darauf, dass beide homosexuelle Filmemacher sind. Dolan mag mit einigen schwulen Starregisseuren der Filmgeschichte den Hang zum Manierismus, zur Maskerade und zum doppelten Boden teilen. Aber man braucht nur einen Film von Kubrick oder Terrence Malick anzusehen, um festzustellen, dass Schwule den Manierismus nicht gepachtet haben. Andererseits sind manche schwule Regisseure wie Gus Van Sant so weit vom Manierismus entfernt wie Vladimir Putin vom Friedensnobelpreis. Xavier Dolan auf den Aspekt des Queer Cinema zu reduzieren, wäre idiotisch. Trotzdem tragen seine Filme natürlich viel zur Sichtbarkeit und Selbstverständlichkeit von homosexuellen und queeren Figuren im Kino bei, auch wenn sie sich nie darauf konzentrieren. Das Coming-Out in I KILLED MY MOTHER mündet schließlich in einer der schönsten schwulen (erster) Sex-Szenen, wie man sie in dieser beiläufigen Selbstverständlichkeit noch nicht so oft gesehen hat. Die Geschlechtsumwandlung in LAURENCE ANYWAYS wird zwar sehr wohl auch über die Genderthematik verhandelt, ist aber vor allem exemplarisch für eine allgemeine Veränderung der Charaktere. Und die Homosexualität der Hauptfigur in Dolans vorletztem Film SAG NICHT, WER DU BIST ist nur insofern ein Problem, als sie ein Problem für die Gesellschaft des Films darstellt, aber nicht Thema des Films.

I KILLED MY MOTHER

I KILLED MY MOTHER

Das Auffälligste an Dolans Gesamtwerk ist sicher der Zuckerguss, das Blendwerk. Doch das Spannendste ist das wechselnde Verhältnis von Form zu Inhalt, das je nach Film in einem sehr unterschiedlichen Gleichgewicht ausfällt. Mit Filmen wie I KILLED MY MOTHER und LAURENCE ANYWAYS bewies er außergewöhnliches Talent für Charaktere und Dialoge. Mit HERZENBRECHER spielte er seine Trademarks bis zum Exzess durch und mit SAG NICHT, WER DU BIST hat er ein formales Experiment gewagt, das vor allem intellektuell zu faszinieren vermochte. Doch der neueste Film MOMMY ist auch fürs Herz. Vielleicht macht auch Xavier Dolan immer abwechselnd einen Film für die Kritiker und einen für sich selbst, das Ergebnis wird nicht immer jedem gefallen. Doch Dolan hält es mit seinen Geschichten sehr direkt und simpel, und kann im besten Fall – wie bei MOMMY – gerade dadurch eine große Komplexität erreichen. Gleichzeitig bleibt er formal wagemutig und seine Trickkiste ist bodenlos. Gerade hat er den Schritt nach Hollywood gemacht und dreht demnächst mit Jessica Chastain und Kit Harington. Der sich im Grabe warnend räuspernde Fassbinder möge schweigen. Xavier Dolan ist sicher einer der spannendsten Filmemacher derzeit und er ist glücklicherweise erst 25. Da kommt sicher noch viel, worüber man sich aufregen kann, und viel, das man lieben kann.

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Menschlichkeit ist keine Glaubensfrage

Der deutsche Titel von John M. McDonaghs neuem Film AM SONNTAG BIST DU TOT klingt vielleicht nicht nach einem Weihnachtsfilm, es ist aber irgendwie einer. Allerdings einer der bitterbösen Sorte.

Mit seinem Debüt THE GUARD hat uns John Michael McDonagh 2011 eine der schönsten Schwarzen Komödien der letzten Jahre beschert. Darin katapultierte er den großartigen Brendan Gleeson von der zweiten Reihe des Charakterfachs (HARRY POTTER, GANGS OF NEW YORK) in die vorderste. Der stampfte herrlich unflätig durch THE GUARD wie ein Elefant im Porzellanladen, als politisch unkorrekter irischer Bulle mit dem Herz am rechten Fleck.

Brendan Gleeson als Hauptdarsteller hat McDonagh in seinen neuen Film mitgenommen, diesmal dessen gutmütigere Seite. Erfreulicherweise auch seine Gabe für pointierte Dialoge und herrlich böse One-Liner. Da sagt einer über die Probleme mit seiner Frau: „I think she is bipolar. Or lactose-intolerant, one of the two.“ Doch bei allem schwarzen Humor geht sein neuer Film weit über Genregrenzen hinaus. Denn wie der Originaltitel CALVARY schon nahelegt, handelt es sich eigentlich um ein Passionsspiel. Und das ist sehr viel ernster als Monty Pythons’ DAS LEBEN DES BRIAN, das bisher wohl bekannteste (das einzige?) Jesus-Biopic aus dem humoristischen Fach.

Father James (Gleeson) nimmt jemandem die Beichte ab. Die Kamera bleibt dabei ganz konzentriert auf des Priesters Gesicht. In seiner Kindheit wurde er regelmäßig missbraucht, von einem Priester, sagt der arme Sünder. Um sich an der Kirche zu rächen, werde er ausgerechnet Father James töten, nächsten Sonntag. Eine Woche habe der Priester Zeit, seinen Frieden mit der Welt zu schließen.
Das ist die einfache, aber wirkungsvolle Prämisse des Films,  in deren Folge sich der Mikrokosmos einer kleinen, sündigen Kleinstadtgemeinde auffächert. Und deren Verhalten ist noch viel zynischer, als die Dialoge selbst. Das fantastische Ensemble versammelt alles, was dies- und jenseits von Hollywood gut irisch tönen kann; u.a. Hollywood-Veteran M. Emmet Walsh, Chris O’Dowd (BRAUTALARM), Kelly Reilly (EDEN LAKE) und, sehr lustig, GAME OF THRONES-Star Aiden Gillen (den meisten wohl besser bekannt als Lord Baelish). Die Suche des Zuschauers nach dem vermeintlichen Täter in spe, der in der Eröffnungssequenz dem Blick verborgen bleibt, mag der Spannungs-Aufhänger des Films sein. Aber dieser Suspense,  den Hitchcock verächtlich ein „Whodunnit“ („Wer ist’s gewesen?“) genannt hätte, tritt immer mehr in den Hintergrund. Jeder kann es gewesen sein.

amsonntagbistdutot01Seelige Frömmigkeit darf man sich, Passionsspiel hin oder her, nicht von CALVARY erwarten. Und auch keine fantastische Geschichte mit viel Teufel und so, denn die Existenz von Gott wird nicht wie im Horrorgenre vorausgesetzt. Auch die Glaubensfrage, an der fast alle Filme mit Priestern als Hauptfigur laborieren (von Hitchcocks I CONFESS bis zur schönen Theater-Verfilmung DOUBT), wird in CALVARY kaum verhandelt. Gott glänzt hier durch Abwesenheit. Er ist vielleicht gerade noch in den wuchtigen Landschaftsaufnahmen der irischen Küste spürbar. Das Lotterleben in der irischen Provinz ist die Hölle auf Erden und damit sind auch noch fast alle ganz glücklich: die untreuen Eheleute, die Habgierigen, die Stricher, Homosexuellen, Säufer, Ungläubigen – keiner will gerettet werden. Father James ist nicht naiv, und tut doch, was er tun muss.

Damit gleicht CALVARY mehr den düsteren Filmen von Abel Ferrara, als Geschichte um Schuld und Sühne. Denn es geht um nichts weniger als die menschliche Natur, mehr noch: um die Menschlichkeit, auf eine ganz unreligiöse Weise. Da haben wir ihn, den Weihnachtsfilm! Die düstere Variante.

Ab 28.11.2014 im Kino. Trailer hier.

Das Cinderella Syndrom

Die Romantic Comedy ist eines der kassenkräftigsten Hollywoodgenres überhaupt. Dem Zielpublikum Frauen verkauft sie ein biederes, zutiefst patriachalisches Konzept von Liebe. Dabei hätte die RomCom als Urgroßnichte der Screwball Comedy die besten Karten für starke Frauenrollen.

Anmerkung: Dieser Artikel stammt aus dem Jahr 2010. Seither (und schon vorher) gab es durchaus neue Impulse im Genre. Trotzdem hoffe ich, dass der Leser/die Leserin weiß, welche Sorte Romantic Comedy gemeint ist und Spaß an dieser kleinen Polemik findet. Euer MacGuffin.

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Das große Vorbild aller Cinderellas: Julia Robertsin PRETTY WOMAN

Ein heroischer, wohlhabender Mann trifft auf eine mittellose Frau, gibt ihrem Leben neuen Sinn und sorgt künftig für das Auskommen der ehemaligen Prostituierten. Mit dieser Variation der Cinderella-Story wurde „Pretty Woman“ (1990) zu einer der kommerziell erfolgreichsten Romantic Comedies der Filmgeschichte. Dieses und ähnliche Märchen werden von Generation zu Generation weitergegeben, verpackt als süße Gute-Nacht-Geschichten in der intimen Atmosphäre des Kinderzimmers – vor allem an Mädchen. So erzeugt die Romantic Comedy in den Zuschauerinnen ein nostalgisches Gefühl der Wärme und Geborgenheit.  Vielleicht bezieht sich das Genre deshalb selbst so gerne auf vergangene Zeiten, als Liebe angeblich noch eine ganz selbstverständliche, sehr romantische Angelegenheit zwischen Mann und Frau war. Zahllose RomComs, in denen Frauen vor einem Schwarz-Weiß-Film mit einem Becher Eiscreme in ihre Taschentücher schniefen, kreieren eine indifferente Nostalgie in Bezug auf die Filmgeschichte: Denn die Liebe, so zeigt ein Blick auf die Filmgeschichte, war nicht immer so altmodisch wie heute.

Die Ursprünge der RomComs liegen in der goldenen Hollywood-Ära der 1930er und 1940er Jahre: Die temporeiche Screwball Comedy mit ihrem Wortwitz, ihren häufig romantischen Inhalten und den krassen Gegensätzen zwischen den Protagonisten gilt als verwandte Vorläuferin der Romantic Comedy. Bezeichnenderweise etablierte sich die Romantic Comedy in ihrer heutigen Form erst in den gutbürgerlichen 50er Jahren als wirklich eigenständiges, kassenkräftiges Genre. Dafür maßgeblich mitverantwortlich waren die neuen Sauberfrauen Doris Day und Audrey Hepburn. In deren direkter keimfreier Nachfolge stehen die RomCom-Queens von heute, von Jennifer Aniston bis Sandra Bullock.

Seit den 50er Jahren hat sich das Genre nicht mehr wesentlich verändert. Auch wenn es heute (zumindest vordergründig) die veränderten Lebensrealitäten von Frauen spiegelt, wie sich beispielsweise an dem vermehrten Aufkommen von Karrierefrauen zeigt. Das war übrigens schon in den alten Screwballs so: Starke Frauenfiguren, Querulantinnen und anarchische Charaktere sind eines der wesentlichen Merkmale des Genres. In LEOPARDEN KÜSST MAN NICHT (1938) z.B. ist David (Cary Grant) im Grunde ein intellektuelles Kretin, ohne die Hilfe von Susan (Katharine Hepburn) im Alltag praktisch nicht überlebensfähig. Sie gewinnt sein Herz mithilfe von Manipulation, Betrug, Diebstahl und Erpressung und ist ganz klar die treibende Kraft hinter dem „Love Interest“. Der Witz entsteht hier durch eine Umkehrung der real bestehenden Machtverhältnisse: starke Frau, schwacher Mann.

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Katharine Hepburn hat die Hosen an in LEOPARDEN KÜSST MAN NICHT

Unter den weiblichen Stereotypen der Screwball Comedy wimmelt es nur so von Working Girls, Boss Ladies und Gaunerinnen. Ein Paradebeispiel für das „Working Girl“ ist Rosalinde Russell als erfolgreiche Journalistin Hildy in Howard Hawks SEIN MÄDCHEN FÜR ALLE FÄLLE (1940). Sie will bei der Zeitung kündigen, um in den Hafen der Ehe einzugehen. Ihr Chef – und Ex-Mann – Walter (Cary Grant) will das verhindern: „You’re a newspaperman!” Sie darauf: “I wanna go some place where I can be a woman.” Aber Walter verwickelt Hildy in eine spektakuläre Enthüllungsgeschichte und überzeugt sie schließlich, dass sie nicht für Heim und Herd geschaffen ist.

Karrierefrauen haben heute keinen Sex

Auch in der zeitgenössischen RomCom gehören Karrierefrauen fast zum guten Ton. In SELBST IST DIE BRAUT ist Sandra Bullock Abteilungsleiterin in einer großen Firma und in DIE NACKTE WAHRHEIT (beide 2010) ist Katharine Heigel eine erfolgreiche TV-Produzentin.  Karrierefrauen, soweit das Auge reicht: Hochzeitsplanerin (27 DRESSES), Modedesignerin (SWEET HOME ALABAMA), Star (NOTTING HILL). Aber eines haben alle diese Karrierefrauen gemeinsam: Sie sind unglücklich. Bis der jeweilige „Love Interest“ in ihr Leben tritt und ihm einen neuen Sinn gibt.

Diese Frauenfiguren werden durch die neue Beziehung oft „weicher“. Sandra Bullock etwa macht in SELBST IST DIE BRAUT eine bemerkenswerte Wandlung vom Büro-Drachen zum Softie durch. In einer intimen Szene gibt sie schließlich zu, heimlich auf der Toilette geheult zu haben, nachdem sie an einer früheren Stelle des Films einen Angestellten gefeuert hat. Im gleichen Atemzug gesteht sie, dass sie seit mehr als einem Jahr keinen Sex hatte. „Weicher“ bedeutet in letzter Konsequenz auch „weiblicher“: Die gefürchtete Sandra Bullock wird gar am Anfang des Films von ihren KollegInnen hinter vorgehaltener Hand als Neutrum „Es“ genannt. Erst die Liebe vermag, eine „sie“ aus ihr zu machen.

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Sandra Bullock ist in SELBST IST DIE BRAUT als Karrierefrau ein Neutrum

Man würde meinen, dass in Filmen, deren großes Thema die Liebe ist, Sexualität im Paket mitkommt. Doch während es vor dem romantischen Aspekt der Liebe kein Entkommen gibt, sucht man nach ihrer fleischlichen Manifestation meist vergebens. Auch die alten Filme der 30er und 40er Jahre hat man sicher nicht wegen heißer Sexszenen in Erinnerung behalten. Denn der damals herrschende „Production Code“ untersagte Bettszenen, indem er vorschrieb, dass von zwei Protagonisten immer mindestens einer mit beiden Füßen am Boden stehen sollte. Ernst Lubitsch, König der Screwball Comedies, war ein Meister darin, diese Vorschriften zu umgehen: In ÄRGER IM PARADIES (1932) lässt er den langen Schatten eines sich küssenden Paares auf ein Doppelbett fallen – beide haben dabei beide Füße am Boden. Alles beschränkte sich auf Andeutungen, aber die waren zuhauf da: dreckige, kleine Zweideutigkeiten im Dialog, kunstvolle Kussszenen inklusive darauffolgender, bedeutungsschwerer Abblende.

Keimfreie Zone

Der Production Code ist mittlerweile Geschichte, dennoch sind heutige Romantic Comedies im Vergleich eine verblüffend erotikfreie Zone. Sex kommt etwa in SELBST IST DIE BRAUT nicht vor. Die einzige Nacktszene dient stattdessen als Slapstick-Einlage, in der es beiden Charakteren natürlich furchtbar peinlich ist, dass sie einander im Adams- bzw. Evakostüm erwischen. Besonders die Reflexion von weiblicher Sexualität hat in RomComs wenig Platz. Die dreckige Angelegenheit der Sexualität erledigen nach wie vor die Männer. In SELBST IST DIE BRAUT merkt Andrew an zwei Stellen des Films an, wie attraktiv er die verhasste Chefin Margaret findet. Zweimal hat er sogar die Gelegenheit ihr an den Hintern zu fassen und sein Morgenständer ist einer Szene immerhin für einen Witz gut. Auch Margaret entdeckt im Laufe ihrer Wandlung zwar eine ganze Menge Qualitäten an Andrew: die Familie, die Werte, die Gefühle! Ob sie auch seine erotischen Vorzüge bemerkt hat, geht aus dem Drehbuch nicht hervor. Und das in einem Film, der sich schon im Titel SELBST IST DIE BRAUT einen emanzipatorischen Anstrich gibt.

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Auch Katherine Heigel zieht in DIE NACKTE WAHRHEIT schließich Romantik dem Sex vor.

Liebe und Sexualität scheinen in der Cinderella-Story fast ein Widerspruch zu sein. In DIE NACKTE WAHRHEIT treffen zwei gegensätzliche Charaktere aufeinander: Abby (Katherine Heigel) glaubt fest an die große Liebe, ihr Gegenpart Mike (Gerard Butler) hingegen an Sex mit möglichst vielen Frauen. Als Abby zufällig den muskulösen nackten Nachbarn unter der Dusche erspäht, zeigt sie sehr deutlich eigenes sexuelles Begehren. Auf den Kerl ist sie im Folgenden ganz wild. Schlussendlich ist er jedoch nicht derjenige, den sie bekommt – stattdessen überzeugt sie Mike, seine pathologische Hüftakrobatik sein zu lassen und mit ihr ein trautes Heim zu gründen. Dabei gibt es nicht einmal Indizien dafür, ob sie ihn auch sexuell begehrt.

Eine Parade unkoventioneller „Freundschaften“

In vielen Scewballs war sexuelles Begehren von BEIDEN Geschlechtern durchaus zwischen den Zeilen zu lesen. In SERENADE ZU DRITT (1933), lässt Regisseur Ernst Lubitsch seine Hauptdarstellerin Miriam Hopkins ausführlich Auskunft über ihre erotischen Gelüste geben. Sie ist in zwei Männer gleichzeitig verliebt und erlegt allen Beteiligten kurzerhand Enthaltsamkeit auf, um die Lage nicht zu verkomplizieren. Schlussendlich verstößt sie gegen ihre eigene Regel: „I know we had a gentlemen’s agreement. But I am no gentleman!“ Die Dreierbeziehung wird am Ende nicht etwa in einer glücklichen Zweierbeziehung aufgelöst, sondern überwindet die moralischen Schranken. In der Schlussszene sitzt Mariam Hopkins mit ihren beiden Verehrern in einem Wagen und küsst beide abwechselnd. Die Screwball propagierte häufig unkonventionelle Lebensentwürfe und die Demontage der bürgerlichen Ehe hatte in dem Genre eine große Tradition. Auch jede Menge außerehelichen Sex gab es  – auch wenn er nie so benannt wurde. Im Finale von DIE SCHRECKLICHE WAHRHEIT (1937) etwa vergibt einander das Ehepaar Cary Grant und Irene Dunne mit salopper Großzügigkeit sämtliche (zahlreichen) außerehelichen „Freundschaften“, nur um munter weiterzumachen, wie bisher.

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Miriam Hopkins liebt flotte Dreier in SERENADE ZU DRITT

Der Schwenk von „Comedy“ in der Screwball hin zu „Romantic“ in der RomCom bringt mit sich, dass die Paarfindung am Ende immer glücklich in einer Zweierbeziehung aufgelöst werden muss. RomComs beginnen mit dem Szenario „Boy meets Girl“ und enden prototypisch mit einer Hochzeit. Was dazwischen passiert, ist reines Füllmaterial. Das Resultat sind Charaktere ohne reale Konflikte und Geschichten ohne Individualität. Die Komplexität von (sexuellem) Begehren und verschiedenen möglichen Lebensmodellen wird schon alleine aufgrund der Zwänge des Genres völlig negiert. Auch wenn SELBST IST DIE BRAUT und DIE NACKTE WAHRHEIT in guter alter Screwball-Manier von unmöglich scheinenden Figurenkonstellationen ausgehen, münden sie doch beide in einem vollkommen konventionellen Beziehungsmodell, in dem schlussendlich alle Spannungsfelder zwischen den Paaren ausgebügelt werden.

Die Inflation der Hochzeiten

Frauen vermittelt das Genre heute in letzter Konsequenz immer noch, dass ihre Lebensaufgabe im Streben nach der einen, monogamen, heterosexuellen Beziehung liegt (und in Folge die Pflege derselben). Nicht umsonst spielt die Hochzeit eine so überproportionale Rolle in zeitgenössischen RomComs, wie sich schon an den Titeln zeigt (teilweise den deutschsprachigen Verleihern geschuldet): SELBST IST DIE BRAUT, DIE HOCHZEIT MEINES BESTEN FREUNDES, VERLIEBT IST DIE BRAUT, MEINE BRAUT IHR VATER UND ICH, HOCHZEIT ZUM VERLIEBEN – die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Die zeitgenössische RomCom findet das „Romantische“ fast ausnahmslos im „Bonding“, also dem Hinarbeiten auf das große, glückliche Finale. Die Hochzeit ist schließlich Zeichen für die gesellschaftliche Anerkennung der Verbindung. Und wenn es keine Hochzeit gibt, wird gerne ein anderer dramaturgischer Trick verwendet: Eine Schlussszene, in der das Paar einander im öffentlichen Raum vor versammelter Mannschaft seine Liebe gesteht. Sowohl in DIE NACKTE WAHRHEIT als auch in SELBST IST DIE BRAUT klatschen die Umstehenden und artikulieren mit rührseeligen „Aahs“ und „Oohs“ ihre Zustimmung zu der Verbindung. Diese Szene hat wohl jeder schon mal in irgendeiner Variante gesehen.

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Die Ehe ist für Rosalind Russell in HIS GIRL FRIDAY doch nicht das richtige Modell

Jedes Genre verkauft seinem Publikum ein Gefühl. Bei der Romantic Comedy ist dies Liebe. Ein Begriff, der kaum stärker ideologisch geprägt und normativer sein könnte. Das Konzept von Liebe, das Romantic Comedies vermitteln, ist enterotisiert, verklärt und bieder. Das überwiegend weibliche Zielpublikum von Romantic Comedies wird mithilfe von weiblichen Identifikationsfiguren zur ihm zugedachten Rolle in einer patriachalen Gesellschaft hingeführt.  So fungiert das Genre als Systemerhalter. Es erfüllt Frauen ihren Traum von der Cinderella-Story und zementiert damit schlussendlich die Haltung der patriachalen Gesellschaft gegenüber der weiblichen Rolle.

Im Schlussdialog der großartigen Screwball EHEKRIEG (1949) sagt Katharine Hepburn zu Spencer Tracey: „There’s no difference between the sexes. Men, Women, the same. Well, maybe there is a difference, but it’s a LITTLE difference.” Er steigt zu ihr ins Bett und macht sich daran sie zu küssen: “Hurray for THAT little difference!” Gut 70 Jahre später verkauft uns die durchschnittliche Romantic Comedy ein Konzept von Liebe, das schon im Jahr 1949 in Wahrheit von vorgestern war.

 

Filmbeispiele:

Selbst ist die Braut (The Proposal), USA 2009, Regie: Anne Fletcher / Die nackte Wahrheit (The Ugly Truth), USA 2009, Regie: Robert Lucetic / 27 Dresses, USA 2008, Regie: Anne Fletcher / Verliebt in die Braut (Made of Honor), USA 2008, Regie: Paul Weiland / Sweet Home Alabama, USA 2002, Regie: Andy Tennant / Meine Braut, ihr Vater und ich (Meet the Parents), USA 2000, Regie: Jay Roach / Notting Hill, USA 1999, Regie: Roger Michell / Eine Hochzeit zum Verlieben (The Wedding Singer), USA 1998, Regie: Frank Coraci / Hochzeit zum Verlieben (The Wedding Singer), USA 1998, Regie: Frank Coraci / Die Hochzeit meines besten Freundes (My best Fried’s Wedding), USA 1997, Regie: P.J. Hogan / Pretty Woman, USA 1990, Regie: Gary Marshall

Screwballs:

Ehekrieg (Adam’s Rib), USA 1949, Regie: George Cukor / Sein Mädchen für alle Fälle (His Girl Friday), USA 1940, Regie: Howard Hawks / Leoparden küsst man nicht (Bringing Up Baby), USA 1938, Regie: Howard Hawks / Die schreckliche Wahrheit (The Awful Truth), USA 1937, Regie: Leo McCarey / Serenade zu Dritt (Design for Living), USA 1933, Regie: Ernst Lubitsch / Ärger im Paradies (Trouble in Paradise), USA 1932, Regie: Ernst Lubitsch

Literatur:

Sennett, Ted : Lunatics and lovers . – New Rochelle, NY  : Arlington House , 1973 / Sikov, Ed : Screwball . – New York, NY  : Crown , 1989 / McDonald, Tamar Jeffers : Romantic comedy . – London [u.a.]  : Wallflower Press , 2007 / Rubinfeld, Mark D. : Bound to Bond . Gender, Genre, and the Hollywood Romantic Comedy – London  : Praeger , 2001

„Und du kommst echt aus Amerika?“


DAS FINSTERE TAL
liegt nicht in den Rocky Mountains, sondern in den Alpen: Der Austro-Western von Genrespezialist Andreas Prochaska stürmt derzeit die Kinocharts und zeigt ein Bedürfnis nach Genrekino aus Österreich – aber kann denn das überhaupt gutgehen?

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Andreas Prochaskas „Alpen-Western“ DAS FINSTERE TAL – jetzt im Kino

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Im Kino: FINSTERWORLD

Gescheit und unterhaltsam: Frauke Finsterwalder liefert mit ihrem Spielfilm-Debüt den besten deutschen Film seit langem, der sich jeder Kategorisierung entzieht. 

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